Anahita
Marlies Eifert

Die Stühle waren aufgeklappt, die Wände hochgezogen, das Auge - wie jeder wusste-eingeschaltet. Alle vier sahen wie gebannt nach dem Stuhl, der noch frei war. "Sie wird schon noch kommen", meinte Gregor. Fragende, abweisende Gesichter antworteten ihm. "DIE hat das nicht mehr nötig!" "Ja, ja, seit der Reise nach Persien, genauer nach Ekbatana, ist sie wie umgedreht. So kann es doch nicht weitergehen!"

Leicht aufgebrachte Stimmen schwirrten im Raum herum. "Ich putze für sie" "Ich räume für sie die Spülmschine aus und ein. Da muss sich was ändern! Wenn sie jetzt nicht kommt ..."

In dem Augenblick erschien Anna in einem schwarzen dicht anliegenden Kleid mit einem Kranz von farbig glänzenden Schmetterlingen aus Diamanten um die Hüfte. Langsam ging sie zu ihrem Platz, die Blicke aller im Rücken.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Karin, die heute den Vorsitz hatte, das Wort nahm und zur Tagesordnung überging. Der Arbeitsplan für die folgende Woche - wie immer: Was es hier und da Neues im Speiseplan gibt, wie der Garten bepflanzt werden soll ... Karin sah zu Anna hinüber. “Du übernimmst die Bodenbearbeitung: Verteilung des Komposts, Harken.”

Anna sagte nichts. Eigentlich glaubte niemand daran, dass die 'neue' Anna etwas Derartiges tun würde.

TOP2 sah den in Aussicht stehenden Besuch des Gruppenbetreuers, Anton Flux, vor. Aber man machte es kurz. Anna, um die es bei dem Besuch gehen sollte, musste nicht alles hören. -

Gregor nahm sich vor, nachher mit ihr zu reden. Warum hielt sie sich nicht an die praktische Kleidervorschrift? Khakihose, Khakitop, Khakijacke mit dem großen roten M auf dem Rücken, Zeichen für die ‚Gruppe M‘ - IHRER Gruppe. Früher war sie wie die anderen : beschwerte sich über Karins Schnarchen, das man durch drei Wände hören könne... Warum tat sie nicht ihre Arbeit in der Flaschenproduktion?

Gregor hatte sich nach getaner Arbeit immer mit ihr getroffen. Wann immer und wo immer das möglich war, hatte sie ihn an der Nase herumgeführt. Nie wusste er, woran er war. Aber manchmal. Manchmal ... Hm. Daran war nun jetzt nicht mehr zu denken. Nicht, seit Ekbatana. Die verwandelte Anna mit dem betäubenden Parfum ... Sie war anders, er hätte lieber wieder die alte ... die Anna, wie sie war, bevor sie die zweitausendjahre Zurück-Reise nach Ekbatana angetreten hatte . Ohne betörende Düfte, im Khakilook!

Zu einem Gespräch nach der Besprechung kam es leider nicht. Es regnete in Strömen. Sie standen alle in der Vorhalle, um den Schauer abzuwarten, Anna hinten allein. Gregor glaubte seinen Augen nicht, als er das Vorekbatanablinzelfeuerwerk, das von ihr ausging, bemerkte. "Sehen wir uns morgen um zehn? Abends?"

Morgen um zehn also! Das war wie früher. Dienstags war Karin, das Auge der Gruppe, zum Singen. Und ohne das Karin-Auge war's eigentlich schöner...


***


Es regnete nicht. Es war still, dämmerig. Näher an Anna heranzurücken, traute Gregor sich nicht.

"Weißt du, dass übermorgen unser 'Betreuer' Anton Flux auf seinem regulären Kontrollgang hier erscheinen wird? Er findet immer was. Ich habe eine ganze Wagenladung voller unguter Gefühle: Irgend etwas passiert. Du kannst doch nicht so weiter machen ..."

Anna reagierte nicht. Ohne Übergang, fast hastig kam's aus ihr heraus :"Ich erzähl' dir alles. Oder sagen wir fast alles. Willst du?

Du weißt, wie lange ich für die Reise gespart habe. Ich wollte raus hier, hatte das Gefühl, ich ersticke. Ob du das verstehst? Ich glaube, eher nein, und deshalb habe ich dir auch nichts erzählt. Die Reise war ausgeschrieben als Fahrt auf der Zeitleiste zurück ins Blaue. Fest stand nur die Zeit: 2000 Jahre. Wo man schließlich und endlich 'landen' würde, das wusste man nicht vorher. Es war reiner Zufall, dass ich nach Ebatana kam. Ich hatte vorher nie von dieser Stadt gehört. Also, ich drückte auf den Knopf. Zweitausend Jahre zurück."

"Dein Ekbatana liegt also im sogenannten 'Römischen Reich!'" Gregor hatte von heute aus gesehen gerechnet und war im 3. nachchristlichen Jahrhundert gelandet.

"Nein, da gab's im Osten ein Reich, das sich gegen die Römer behauptet hat. Das Reich der Sassaniden! Ich wurde den Städten Naqsch-i-Rustam zugeteilt und -na ja, du weißt: Ekbatana. Da wollte wohl niemand hin."

Anna rieb mit dem Finger an der linken Schläfe: "Du kennst das vielleicht noch aus der Bibel. Ekbatana, dort waren die Archive des altpersischen Reiches deponiert, da war die Sommerresidenz des persischen Herrschergeschlechtes lange vor den Sassaniden. Man weiß, dass die Stadt von Alexander erobert wurde.” Und Anna dozierte weiter von der Blüte unter den Sassaniden um 300 n. Chr. und und und...

"Ja, ja, das kann ich selbst nachlesen." So weit ging Gregors Interesse an Geschichte im Moment nicht. Ihm lagen andere Fragen mehr am Herzen: "Was machen wir nun übermorgen? Was sagen wir Anton Flux? Warum nur machst du nicht deine Arbeit wie die anderen?"

Anna stand auf. Es schien sie nicht zu interessieren. Ihre und Gregors Interessengebiete lagen weit auseinander Und außerdem hatte es wieder angefangen zu regnen

Gregor schlief nicht in der Nacht. Immer wieder ging ihm dieser Paragraph 222 a des Globalkommunegesetzes von 2275, der den Ausschluss von Kommunemitgliedern bei bestimmten Vorkommnissen vorsah, durch den Kopf ... Er wollte Anna nicht verlieren. Und er wusste keinen Ausweg.


***


Gregor schien sich zu irren. Der Paragraph kam auch nach dem Besuch von Betreuer Flux nicht zur Anwendung. Anna blieb zu Hause. Vorerst.

Man zog Dr. Müller und Dr Schulze-Meyer zu Rate. Beide verschrieben Psychopharmaka und rieten dazu, bis auf Weiteres abzuwarten. Die übrigen Kommunemitglieder erklärten sich bereit, das Arbeitsprogramm ohne sie einzuteilen. Man wollte Anna die Chance geben, sich zu erholen und sich wieder einzufügen.

Und das Leben ging weiter. Jeweils an Dienstagen traf sich Anna mit Gregor. Karin wusste sogar davon, hatte nichts dagegen. Im Gegenteil: Irgendwann würde Gregor mehr erfahren und Hinweise auf Heilung und Reintegration seiner Partnerin an die Gruppe geben können. So hoffte sie, so hofften auch die anderen.

Aber bei Licht betrachtet, erfuhr Gregor herzlich wenig von Annas Zeitreise und nichts, was Hinweise über ihre Irritation gegeben hätte. Zwar sagte sie, sie sei Haustochter in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Ekbatana gewesen - in der ersten Zeit ... Das war dann aber schon alles.

Keine gemütliche Plauderei über Kindererziehung oder über die Speisen der damaligen Zeit, statt dessen wiederholt eine Art liturgischer Gesang.

Mit wiegender Stimme und visionärem Gesichtsausdruck rezitierte sie:

"Wer hat die Erde und den Himmel fest gemacht, damit sie nicht einstürzen?

Wer hat die Wasser und die Pflanzen hervorgebracht?

Die Fragen waren, erklärte sie, an Ahumarazda, den obersten persischen Gott gerichtet.

Ich frage dich oh Herr, antworte mir ..."

Gregor dachte daran, wie viele Flaschen heute durch die Produktion gegangen waren ...

Was - so fragte er sich sich wieder und wieder - hatte Anna mit Ahuramazda zu tun? Oder auch mit Anahita, einer weiblichen Gottheit, die ziemlich oft in ihren Erzählungen vorkam?

Anahita- in Persien die weibliche Gottheit der Fruchtbarkeit, Sternengöttin.

Ihre Gestalt glich der einer Zypresse, ihre Wangen, Tulpenwangen, leuchteten rot.

Blicke wie Schwerter, Wimpern wie Dolche.

Sie verteidigte ihre Schützlinge...

Gregor war müde, er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, während Anna, so wie er es sah, nichts getan hatte.

Sie war auf der Suche nach dem vollständigen Schatz von Ekbatana. Seit einiger Zeit nahm eine Idee von ihr Besitz, an deren Verwirklichung sie selbst noch nicht so recht glauben konnte. Noch nicht. Dafür brauchte sie Geld, sehr viel Geld; wesentlich mehr als sie schon besaß und an sicherem Ort deponiert hatte.

Alexander der Große, das hatte sie auf ihrer Reise erfahren, hatte die Schätze aus Persepolis vor dem großen Brand nach Ekbatana bringen lassen. Nicht alles war dort angekommen, einiges vielmehr in alle Winde verteilt. Internetsuchmaschinen konnten weiterhelfen. Bücher der alten Bibliothek. Vielleicht.

Vorerst begnügte sie sich mit Ohrgehängen und ein paar weiteren Fundstücken aus diesem Schatz, die sie auf der Reise hatte erwerben können.


***


Anna und Gregor setzten ihre Dienstag- Treffen fort, ohne dass sich Spektakuläres ereignet hätte. So war Gregor einigermaßen verwundert, als Anna ihn umarmte, was seit dem Ekbatana - Besuch nicht mehr vorgekommen war. Mit geheimnisvoller Miene holte sie ein Kästchen hervor.

“Schau dir das an: Schmuck, Kleinkeramik aus dem Schatz von Ekbatana. Das ist hier drin, in dem Kästchen. Ich hab's bekommen als Lohn für meine Dienste als Priesterin der Anahita, einer großen Göttin in Persien. In deinen Händen ... das Kästchen. Vergrab' es und merk‘ dir die Stelle. Morgen, spätestens übermorgen, komme ich in die 'Geschlossene' nach Germelshausen.”

Gregor nahm das Kästchen zögernd- strich darüber. Priesterin war sie vor 2000 Jahren? Bisher war doch nur von ihrer Rolle als Haustochter bei einer jüdischen Familie die Rede. Und nun Priesterin! Und woher im alles in der Welt kamen jetzt ihre düsteren Vorahnungen bezüglich Anschluss aus der Gruppe und Einlieferung in Germelshausen? Als sie aufstand, versuchte er, sie zurückzuhalten. Aber ihm war von vornherein klar, dass nichts mehr zu erfahren war.

Auch in dieser Nacht schlief er schlecht und wusste keinen Rat.


***


Um Mitternacht hörte er Annas Stimme. Er rannte hinaus. Und er sah: Anna tanzte um eine Feuerstelle. Das weiße Kleid flatternd, Diamantschmetterlinge blitzend im aufgelösten Haar. Sie hob die Arme und rief “Anahita”. Immer wieder: “Anahita”, den Namen der persischen Gottheit. War sie doch deren Priesterin vor 2000 Jahren.

"Anna! Anna!" Natürlich hörte sie ihn nicht.

Stattdessen knisterte es hinter ihm. Karin und die anderen. Und er wunderte sich nicht, als auch Betreuer Flux im Hintergrund auftauchte.

Anna hatte den Tanz beendet, breitete die Arme aus, die schwülwarme Luft von Ekbatana lief in Wellen um sie herum. Alle starrten sie an. Wie gebannt. Aber das alles dauerte nur einen kurzen Moment - dann löste sich die Spannung; Anna schritt auf die Gruppe zu und ließ sich widerspruchslos wegführen.


***


Mit etwas Glück erfuhr Gregor die Ursache der “integrativen Mangelerscheinung”, so der offizielle Ausdruck für Annas seltsames Verhalten. Die Patientin habe das Somnium 71 nicht vertragen - ein Mittel, das man Zeitreisenden zur Stabilisierung des vegetativen Nervensystems mit auf den Weg gab.

Dass Anna auf eine irgendwie geartete Therapie ansprechen würde, die man an ihr in Germeslshausen auszuprobieren beabsichtigte, war eher unwahrscheinlich. Nach der Entlassung aus der “Geschlossenen” in Germelshausen würde sie zu den GNN (den Gesellschaftlich Nicht Notwendigen) gehören. Er wusste: Der Umgang mit einer GNN war verboten, strengstens verboten. Meist verlief das Leben von Ausgeschlossenen im Nebel. Die Erinnerung an sie verlor sich in der Regel im täglichen Kommuneeinerlei. War das die Zukunft auch von Anna!? Gab es eine andere Möglichkeit?


***


Gregor besuchte Anna in Germelshausen so oft er konnte.

Sie machten Spaziergänge im Garten der Anstalt. Meist ohne viel zu reden. Fast immer trug Anna einen dunkeln Sternenmantel, der aus einem Stück geschnitten war.

Aus altpersischen Schriften rezitierte sie wie in Trance:

'Ich frage Dich, o Herr (Ahuramazda), antworte mir:

Wer ist bei der Geburt der Urvater der Gerechtigkeit gewesen ?

Wer hat der Sonne und den Sternen den Weg gewiesen?

Wer ist es, wenn nicht du, der den Mond zunehmen und abnehmen lässt?'


"Wer war Ahuramazda?" Gregor hörte vom Kampf dieses gerechten Gottes gegen Ahriman, der das böse Prinzip verkörperte, und von Anahita, der weiblichen Gottheit für Feuer, Wasser und Vegetation, Fruchtbarkeit, deren Priesterin sie vor zweitausend Jahren gewesen war.

"Anahita- in leuchtendem Gold gekleidet fuhr sie in einem von vier Pferden gezogenen Triumphwagen. Wind , Regen , Hagel , Wolke um sie herum. Sie verteidigte ihre Schützlinge!"


Anders als zu Hause wurde er, wenn sie erzählte, nicht ungeduldig, dachte nicht an irgendwelche Flaschensortierapparate, die mal wieder nicht funktioniert hatten.

Nach und nach verlor er sich immer wieder in den Worten der “Priesterin”, fühlte sich angezogen von ihrer Sphäre, ohne zu wissen, warum.

Bei ihr hatte “Zeit” eine andere Dimension. Bäume und Gräser bekamen Namen und Gesichter. Gesichter, die sich je nach Tages-, Jahreszeit und Wetter änderten.

Nein, es fiel ihm nicht auf die Nerven, dass ihr die Reise nach Ekbatana wichtiger war als die Neuigkeiten aus der Heimkommune, als Gartenbepflanzungspläne. Betriebsfeste? Nein, danke. Wer mit wem? Ohne Interesse. Ergebnisse der letzten Produktionsserie? Anna hörte überhaupt nicht mehr zu.


***


Zu Hause wurde Gregor wieder in die Geschäfte verwickelt. In unregelmäßigen Abständen besuchte er Anna, hatte das Gefühl, dass alles so seinen Lauf nehmen würde.

Als er dann nach einigen Monaten hörte, dass Anna noch in dieser Woche entlassen werden sollte, stellte sich Panik bei ihm ein. Er hätte die Initiative ergreifen müssen. Er hätte! ... Nun war nichts mehr zu machen .Anna würde entlassen werden. Wenn sich die Tore von Germelshausen hinter ihr geschlossen hatten, wenn sie “frei” war, dann konnte er sie nicht mehr sehen, dann gäbe es keinen Kontakt mehr, keine Gespräche!

Er erinnerte sich daran, was sie ihm erst kürzlich gesagt hatte: "Sie werden dir das Auge implantieren. Das steht fest. Mit diesem Auge haben sie die Kontrolle über dich. Du kannst keinen einzigen Schritt machen, ohne dass der auf irgendeinem der Monitore, die bei Anton Flux stehen, zu sehen ist. Mich irgendwo zu suchen, hat keinen Sinn. Sofort wären sie auf deiner Fährte ... "

Es sei denn...

Gregor dachte an Flucht. Zum ersten Mal überlegte er, ob er nicht alles hinter sich lassen sollte. Gut, er konnte nicht klagen, kam mit seinem jetzigen Leben zurecht. Aber ohne Anna?? Vielleicht brauchte sie ihn?

***

Gegen einen letzten Besuch in Germelshausen hatte niemand etwas einzuwenden.

Anna hatte schon den genauen Zeitpunkt ihrer bevorstehenden Entlassung erfahren, als Gregor kam. Nun musste sie ihm endlich alles sagen von ihrem großen Plan! Es blieb keine Zeit mehr. Wie immer saßen sie nebeneinander auf der Bank. Jetzt stand sie auf, übergab ihm feierlich einen Schlüssel zusammen mit einer Mohnblüte, die sie gerade gepflückt hatte.

"Das ist der Schlüssel zum Kästchen. Du musst den Schmuck verkaufen, damit wir die Zeitreise bezahlen können. Und die Zeitreise müssen wir unternehmen, weil wir noch mehr Geld brauchen. Viel Geld!!! Behalte nur das Ölfläschchen, auf dem eine Tänzerin unter Blumen dargestellt ist. Ich werde es brauchen, wenn ich wieder in den Dienst Anahitas eintrete.

Wir, du und ich, werden einen Tempel bauen, einen Tempel, der dem Kult Anahitas hier in unserer Zeit geweiht ist, eine Sammelstätte für alle Ausgeschlossenen. Unter Anahitas Leitung werden sie sich zusammenfinden. Und wir alle werden unter dem Schutz der Göttin im Streitwagen stehen, begleitet von Wind, Regen, Hagel und Wolke."


"Ja, aber ..."


Ungerührt fuhr Anna fort: "Dazu brauchen wir ihn, den Schatz von Ekbatana. Oder wenigstens etwas davon. Wir beide fahren zweitausend Jahre zurück und halten die Augen offen. Ich brauche dir nicht zu erzählen, dass wir als Zeitreisende ganz andere Möglichkeiten haben ...Wir werden finden, was andere nicht sehen. Es ist keine Zeit zu verlieren.

Ach, sag' nicht: 'Ja, aber..'.Du hast es doch längst genauso satt wie ich, hier in unserem Überwachungsstaat nur eine gut funktionierende vergruppte Nummer zu sein!"


***


Das Gebäude Antenau-West, von dem aus die Zeitreise starten sollte, lag vor ihnen. Es hatte keinerlei Aufenthalte gegeben. Wer weiß, vielleicht hatte der Geist der Göttin seine Hand im Spiel? Sie lösten die Fahrkarte nach Ekbatana, drückten das Jahr 2000 und tranken dann zusammen mit einigen Herumstehenden den Reisecocktail.

Kaum hatten sie das Glas, das noch einen Rest gelber Flüssigkeit enthielt, zur Seite gestellt, da bewegten sich fast gleichzeitig die Wände. Der Raum wurde weit, sie sahen Tische vor sich, Leute aßen, redeten mit weit ausholenden Gesten. Kellner standen herum. Sie wurden müde, schliefen ein und kamen erst wieder zu sich, als sie mit anderen zusammen in einem Wagen saßen, der von Pferden gezogen wurde. Endlose Wüste, kleinere, größere Hügel, weit weg irgendwo Berge, Rauchwolken von irgendwo her. Anna summte vor sich hin. Wieder wurden sie müde. Gerade noch nahmen sie Schilder wahr, die die Entfernung von Ekbatana anzeigten. Ekbatana 150 km, Ekbatana 130 km, Ekbatana 120 km, Ekbatana 30 km.

Anna schien die Einfahrt zu verschlafen. Sie murmelte etwas von Alexander, Ahuramazda und Anahita ...

Plötzlich hielt das Gefährt an. Sie waren angekommen. Gregor rief nach vorne, um dem Fahrer Bescheid zu geben, wohin er sie fahren sollte. Aber er konnte den Lenker des Wagens nicht mehr finden. Ein Bettler saß da, streckte ihm die Hand entgegen, die seitlichen Öffnungen waren in Wirklichkeit Schaufenster, Ausstellungsräume, in denen es Teppiche gab, auch Amphoren, Schalen, Schmuck, Goldbarren mit Inschriften.

Beide schauten sich an. Beide hielten den Atem an!

Der Schatz von Ekbatana! Weit konnte er nicht mehr sein.


***



Nach Jahr und Tag - von Anna und Gregor hatte niemand aus der Gruppe mehr etwas gehört-, brachte Karin eine EVD mit nach Hause, die ihr jemand mit Maske und schwarzem Umhang auf geheimen Wegen hatte zukommen lassen. Sofort ahnte sie: Die CD hatte mit den beiden, mit Anna und Gregor, zu tun.

Sie war betroffen, denn wenn sie ehrlich war, dann hatten sie und die anderen bis vor kurzem so gut wie nicht mehr an ihre früheren Gruppenmitglieder gedacht. Sie waren verschwunden in die Bereiche der GNN(d.h. der Gesellschaftlich Nicht Notwendigen). Sie hatten nichts mehr mit ihnen zu tun. Da machte sich in ihr auch kein schlechtes Gewissen breit, denn sie hatten alles getan, um beide zu retten. Vor allem Anna. Merkwürdig, dass der Botschaft in Form einer CD dieser Traum vorangegangen war.

Er war plötzlich gekommen wie aus heiterem Himmel und für Karin völlig unerklärlich.

Sie träumte von Anna, von ihrem Tanz, ihrem dunklen Sternenmantel, der aus einem Stück geschnitten war. Und im Traum trug sie, Karin, auch diesen Sternenmantel! Sie tanzte und tanzte, bewegte sich nach diesen einschmeichelnden, fremden exotischen Klängen.

Wenn sie dann aufwachte und Khakirock, Khakitop und Khakijacke auf der Ablage neben dem Bett liegen sah, dann war ihre Stimmung auf dem Nullpunkt.

Warum hatte gerade Gregor, der doch anfangs gar nicht begeistert war von Annas Wandlung, sich ihr angeschlossen ? Warum war er freiwillig mit ihr in die 'Verbannung' gegangen?

Khakirock, Khakitop, Khakijacke - jeden Tag und jeden Tag. Karin schaute an sich herunter, stellte sich vor, wie sie selbst in dem schwarzen Kleid, besetzt mit einem Kranz geflügelter Wesen, aussehen könnte...

Manchmal tanzte sie, wenn sie allein war.

Immer öfter wurde ihr dieses Leben zu eng. Sie mußte hier heraus, heraus aus dieser Begrenzung! Ganz im geheimen sparte sie auf eine Zeitreise. Genau wie Anna - damals. Wie viele Jahre waren seither vergangen? Nichts war in der Zwischenzeit passiert. Nichts!!!

Und nun war der Mann mit Maske und schwarzem Umhang aufgetaucht und brachte eine Botschaft von Anna. Was sollte sie tun? Ihr war klar, daß sie eigentlich die CD sicher stellen mußte und den Überbringer eigentlich zumindest Anton Flux zu melden hätte.

Irgendwie war durchgesickert, dass 'da draußen' Prozesse im Gang waren. Prozesse, von denen nicht sicher war, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben bedrohten. Von einem riesigen Tempelbau war die Rede, von Versammlungen der 'Ausgeschiedenen'. Von ausgelassenen Tänzen , von Gesängen, von wilder Musik.

Hatte der Vermummte damit zu tun? Oder Anna?

Karin wunderte sich über sich selbst. Sie nahm die CD an sich und wartete nur auf eine passende Gelegenheit, sie den anderen vorzuführen.




Bereits am Abend rief sie die übrigen Gruppenmitglieder im Gemeinschaftsraum zusammen. "Wir sagen Anton Flux nichts von der Kassette. Aber wir müssen wissen, was passiert- da draußen!!" Entschlossen schob sie die CD ein.

Alle starrten auf die Breitwand, allen wurde es heiß und kalt auf einmal, als sie erkannten, wer die Priesterin des Tempels im schwarzen dicht anliegenden Kleid mit Flügelwesen um die Hüfte war: Anna. Es war die Anna, die sie kannten und doch auch wieder nicht.

Anna, Anahita, Anna.

Karin kam es so vor, als würde Anna winken.

Was wäre, wenn??

Annas Weg: Könnten wir nicht auch??


Was Karin und allen anderen bei ihren Fluchtträumen entgangen war: Hinter dem Vorhang war ein Auge installiert, ein Auge, das dabei war, alles was im Gemeinschaftsraum geschah und noch geschehen würde, zu beobachten...