Frank der Frager
Marlies Eifert
 

Jedes Jahr die selbe Leier, jedes Jahr das gleiche Theater. Frank zur Kontrolle ins C.d.A., in den Club der Alten, der seinen Sitz ganz oben unterm Dach der Polis hatte.
Was das sollte, fragte Frank. Frank war fünfzehn, geboren am 2.3.2250 auf Deck 3 Abt.IV in Megapolis. Jedes Jahr schickten ihn seine Eltern nach oben in die Geschäftsstelle des C.d.A.
Er war nicht gegen die Ausflüge nach oben. Überhaupt nicht.
Irgendwann würde er nach ganz oben kommen. Die große Schau von Megapol. Fliegen mit einem Hubschrauber. Das war schon immer sein Traum.
Sonst war‘s ja nicht auszuhalten, ich meine, ohne diesen Traum. Total langweilig. Alles. Total langweilig. Das Leben als solches – Uaah!
John, sein Vater, hatte ihn erst vorgestern wieder gefragt, was er denn werden wollte. Wozu er Lust hätte. Er, John, würde ihn gern mitnehmen zum Deck 5. Er könnte in der Ernährungsfaktorei arbeiten. Drei Jahre Ausbildung, und er hätte ausgesorgt. Für den restlichen Teil des Lebens ausgesorgt. 
„Du machst das wie dein Vater. Das reicht. Mehr brauchst du nicht. Dann suchst du dir eine Frau, was dir nicht schwer fallen dürfte. Wie gesagt, das reicht. Eine Frau und zwei Kinder. Ein Kind nach Vorschrift mit dem staatlich verordneten Genmaterial. Über das andere kannst  du  selbst bestimmen. Da wird  dir keiner reinreden.“ -
Um halb drei Uhr nachmittags sollte er bei der Geschäftsstelle sein. Also noch massenhaft Zeit. Zwei Stunden. Frank fragte sich, was er damit machen sollte. Mit so viel Zeit. Er dachte an das Nahrungsmitteldeck. Ja, er würde in die Faktorei gehen, wo es immer mal Sonderangebote gab. 
Vor einem Jahr war er auch dort gewesen. Langweilig war‘s damals auch schon, das Leben. Und überhaupt. Was passiert denn schon? Und deshalb, weil was passieren sollte, hatte er etwas ausprobieren wollen. Er war ganz vorsichtig vorgegangen, hatte sich zwischen zwei Frauen gestellt - weit weg von den roten Einkaufrobots, die auch herumliefen. Die hätten gleich was gemerkt. Er machte lange Finger, und ein paar Sachen waren so mitgegangen. Das Hemd mit dem großen „F“ drauf, die Windjacke und das teure Teil für seinen Modellhubschrauber. Nicht, dass  John ihm das alles nicht bezahlt hätte. Das war‘s nicht. Wie gesagt, es sollte mal was passieren! Und es passierte dann auch wirklich was. Als er spürte, wie ihn jemand am Kragen packte, war alles zu spät. Kurz danach saß er in einem  Raum mit Grünpflanzen einem gütigen älteren Mann gegenüber, der sich als Tuti vorstellte. Friedrich Heinrich Tuti.
“Mein Sohn...“. Wenn Frank etwas hasste, dann war das der Ausspruch „Mein Sohn“. Aber in dem Augenblick, in dem er eine patzige Antwort überlegte, spürte er nichts mehr.  Er war weggetreten. Weiß der Teufel, wohin. Auf jeden Fall hatte er sich erst draußen wiedergefunden. Vor dem Eingang zur Faktorei. 
Nein, er hatte heute keine Lust auf eine Begegnung mit dem Tuti. „Mein Sohn...“. Das musste nicht sein.
Er kaufte etwas in der Eingangshalle für seine Mutter‚ genannt Mamutschka. Sie schimpfte immer, wenn ihr per Netzbestellung der falsche Nudelextrakt gebracht wurde. Er würde ihr den richtigen Extrakt besorgen. Manchmal gab es Frischobst. Das war etwas für die Familie. Und Vergissmeinnicht für Schwesterchen Isabel .Er musste lange suchen, um die richtigen Blumen zu finden. Da hinten in der Ecke standen sie! Und Veilchen für Mamutschka. Also gut! Er beeilte sich, als hätte er wer weiß was vor.
Ob er den „Gelehrten“ einen Besuch abstatten sollte? Wenn er den Genexperten hätte sprechen wollen, dann hätte er sich vor drei Monaten anmelden müssen. Das ging also nicht.
Die Kühlabteilung im Besucherzentrum – wäre auch nicht schlecht! Da war allerdings dauernd ein Riesenandrang, und die Profs ließen immer nur ein paar Leute rein. Aus den Nachrichten wusste er: Erst vorgestern war wieder einer aufgetaut worden, einer aus dem 20. Jahrhundert. 
Wie fast alle Eingefrorenen war er alt, 80 Jahre, also um einiges älter als Tuti. Sie sahen richtig alt aus. Runzlig, dick, mit traurigen Augen. Müde waren sie, obwohl sie sich doch hatten einfrieren lassen, weil sie etwas sehen wollten von der neuen Zeit.
Man bemühte sich um sie, ließ sie erzählen; und  dann verschwanden sie buchstäblich von der Bildfläche. Natürlich gab es Gerüchte. Mamutschka meinte: „Denen wird eine Zeituhr eingesetzt. Dann leben sie nicht mehr lange. So lange, bis der nächste aufgetaut wird.“ Niemand interessierte sich wirklich dafür.
Frank hätte sich gern mit so einem unterhalten. Allein. Er kannte alle Filme aus dem 20. Jahrhundert, sah sie sich immer wieder an. Rühmann war ihm ein Begriff, Steffi Graf, die Clinton-Affäre, die Winterspiele in Salt Lake City. Bush, Collin Powell und die Allianz des Bösen, die Selbstmordattentäter in Israel. Flugzeuge, Bomben, Trümmerfelder nach dem zweiten Weltkrieg. Hitler, Stalin.
Frank wollte den Eingefrorenen fragen, wie er hieß, woher er kam, was er gemacht hatte -beruflich. Ob er mal in einem Hubschrauber geflogen wäre ...
Er beschloss, sich auf die Anmeldeliste der Besucher zu setzen. Das konnte er auch von zu Hause aus machen. 

*****

Das Date war um halb drei. In einer Viertelstunde musste er bei den Alten sein. Und wie immer in den letzten Jahren war er pünktlich.

„Ist dir was nicht klar? Warum füllst du die Formulare nicht aus?“
Frank der Frager wollte wissen, warum dies zu tun wäre. „Jedes Jahr die selbe Leier, jedes Jahr das gleiche Theater. Wissen Sie was? Ich will nicht mehr! Können Sie mir sagen, was das Ganze soll?“
Mr. Kenneth versprach Rede und Antwort. „Aber zuerst...“. Er dachte an das Ausfüllen der Formulare. Dann überlegte er es sich anders. „Weißt du was? Wir unterhalten uns ein bisschen.“ 
Er las aus der Frank-Akte am Bildschirm. „Du hast den Therapeuten Reutelbieger beschäftigt?“ 
Frank grinste. „Ja, wir haben einen Dreipunkteplan erarbeitet. Erstens: Ich passe in der Schule auf, zweitens: ich prügele mich nicht in den Pausen, und drittens: ich mache meine Hausaufgaben. Oder so ähnlich. Wenn das alles drei Wochen lang funktionieren würde, dann sollte mein Alter mir das Flugsimulationsprogramm kaufen.“
„Und?“
„Ich habe das Programm bekommen, sogar eine Woche früher als abgemacht.“
„Und dann?“
Frank grinste wieder. „... war alles wie vorher. Können Sie mir jetzt sagen, was das alles...“.
„Dir gefällt es also nicht bei uns?“
Sofort reagierte Frank: „Nein, überhaupt nicht.“
Dann fiel ihm etwas ein. Da stimmte was nicht. Er sprang auf. „Warum sagen Sie ‚bei UNS?‘ Was soll das heißen? Mein Name ist Frank Bleibtreu, ich bin am 2.3.2250 geboren auf Deck 3 Abt.IV. Meine Eltern sind ... Ich bin von hier!! Von wo soll ich denn sonst kommen?“
Das Gesicht von Mr. Kenneth sagte, dass er jetzt auch nicht mehr weiter wusste. ‚Hätte ich doch nicht...‘. “Ich kann dir alles sagen, nur nicht jetzt. In einem Jahr. Ich erkundige mich. Du wirst sehen.“
Frank hatte so eine Ahnung, dass in einem Jahr hier ein anderer sitzen würde, der wieder nur Bahnhof verstand und der sich auch erkundigen wollen würde..
Er stand auf - zufällig fiel der Stuhl dabei um - und verließ den freundlichen Raum durch die offene Tür. Mr. Kenneth rief etwas hinter ihm her. 
Frank war sicher: Hierher kam er nicht wieder zurück, nicht im nächsten Jahr und nicht in den folgenden.

******

Mamutschka strahlte wie drei Glühlampen auf einmal. Der richtige Nudelextrakt und Frischobst und Veilchen!! Das war‘s. Ja, ja, die regelmäßig staatlich kontrollierten  Fertiggerichte, die man überall bekam, taten‘s auch, aber Mamutschka war altmodisch, sie wollte alles selbst machen oder fast alles.
Am liebsten schälte sie Kartoffeln, putzte Gemüse, hörte die „Shadows“ dazu und  stellte den Geruchskanal ein. 
Frank unterdrückte eine Bemerkung über die Veilchendüfte in der Küche. Er wollte die Gunst der Stunde nutzen. 
Frank der Frager fragte und fragte, und was das Erstaunlichste war, Mamutschka meinte nur: “Warum nicht schon längst?“
Sie brachte ihm einen Spiegel. 
„Da siehst du es doch. Blond bist du, hast Augen blau, wie blauer Himmel im Frühling, und groß wirst du. Wenn du so weiter wächst, brauchen wir einen Schneider für deine Sachen, du mein teurer Junge! Du hast doch immer so ungeheuer interessiert mit Schwester Isabel zusammen Gentechnologie studiert. Ist dir nie was aufgefallen?“

*****

Gut, ihm hätte einiges auffallen müssen Er war bei allen seinen Aktivitäten der Solotänzer. Niemand machte mit, wenn er die Wände mit Phönix-Karikaturen  bemalte, wenn er mit Trompetengetöse die wiegenden Gesänge bei den jährlichen Revolutionsfeierlichkeiten unterbrach, wenn er im Unterricht die klugen Bemerkungen des Lehrenden mit Gähnen begleitete ... Und so weiter und so weiter. 
Er hatte bei allem, was er so tat, keine Nachfolger und keine Mitläufer 
Es hieß nur immer: “Das war Frank“, und weitere Kommentare erübrigten sich von selbst. Warum erübrigten sie sich, die weiteren Kommentare?  
Das alles war doch nicht zum Aushalten! 
Kein Fußball, keine Formel 1, kein Wettkampf, keine Ekstase. Keine Krimifluchten über Dächer, immer kurz neben dem Abgrund mit geladener Pistole im Rücken. Nichts. Nichts. Nichts. Hier lachten sie über ihn, günstigstenfalls. Jeder ging darüber hinweg, als wäre nichts passiert.
Früher - in seinem geliebten 20. Jahrhundert - hätte man ihm wenigstens ein Gerichtsverfahren gegönnt. Davon konnte heute schon deshalb keine Rede sein, weil es keine Gerichte mehr gab, keine Gefängnisse ...
Außer Isabel, seiner jüngeren Schwester, hatte er keinen Freund.
Tim, Bill, Freddy, Jürgen, die mit ihm zweimal in der Woche die Schulbank drückten, sagten schon mal: „Ach, Frank, nicht schon wieder! Muss das sein?“
 Sein Stuhl war beim Schaukeln nach hinten gekippt. Er lag am Boden, streckte die Hände nach hinten und äußerte: Au, au. Aua..

*****

Isabel. Er schwärmte für Isabel, und sie allein hielt zu ihm, als er in einen Verdacht geriet, der ihn doch in einige Schwierigkeiten bringen konnte.
Ja, er gab‘s  zu: Seine Eltern hatten‘s nicht leicht mit ihm. Und als er im Zusammenhang mit dem Attentat auf die Kommunikationszentrale im ersten Stock genannt wurde, er, Frank Bleibtreu, waren sie einigermaßen besorgt um ihren guten Namen. 
John-Vater zu Sohn Frank: „Weißt du was? Wir fahren  zusammen zu Mr. Kenneth in die Geschäftsstelle des C.d.A. Und dann bleibst du dort. Wenigsten für eine Zeit.“
Frank fiel aus sämtlichen vorhandenen Wolken, weinte, konnte nichts sagen und lief zu Isabel. Erstmal zu  Isabel!
 Er erinnerte sich. Der Fall war nicht aufgeklärt worden. Wie sollte er auch, hatte doch das Wachpersonal keine Übung. Seit ewigen Zeiten war nie etwas passiert. 
„Das ist nicht Franks Stil“, hatte dann Isabel Mamutschka und John gegenüber gemeint. „Gut, oder ja, auch nicht gut, er beschmiert die Wände mit Karikaturen des Phönix. Er stört unsere schönen Gesänge mit einem Trompetensolo, aber er beteiligt sich nicht bei einem Attentat!“
Therapeut Reutelbieger wurde um Rat gefragt, an Mr. Kenneth eine Mail geschickt. Isabel überzeugte sie alle, und Frank blieb zu Hause.
Ernsthaft: Schwer war’s eigentlich nicht, das Überzeugen. Ohne Frank? So richtig vorstellen konnte sich das Mamutschka nicht. Und John? Nein, John auch nicht!

*****

Schau in den Spiegel, hatte Mamutschka gesagt. Nicht von hier. Solotänzer, Stuhlumwerfer, Wändebeschmierer, Trompeter. Niemand von hier tat das, was er tat. Alle waren sie unendlich vernünftig. 
Bescheuert. Er war bescheuert. Und Isabel meinte das auch.
Isabel  ging mit ihm in den Hubschrauberraum, nicht einmal, eigentlich ziemlich oft. Sie ließ sich alles erklären und vorführen. Und Heavy Metall hörte sie sich an! Wenn er sich das so richtig überlegte, konnte sie diese Musik doch nicht begeistern!
Was seine um ein Jahr jüngere Schwester sagte, war ihm keineswegs egal.
Mit ihr musste er alles bereden, die Sache mit dem Spiegel, warum er so war, wie er war. 
Aber Isabel fehlte die Zeit für ihren älteren Bruder. Da war nämlich Jürgen. Sie musste mit ihm lernen. Für irgendeinen Abschluss. Das war überhaupt nicht nötig, denn Isabel wusste sowieso schon alles. Beim Phönix: Was wusste sie nicht?

*****

Frank war die Lust am Fragen vergangen. Er fühlte sich schlapp und schlecht. Genau so wie damals, als er die Masern bekommen hatte. Bei allen Kinderkrankheiten war er zu den Gelehrten in Quarantäne gekommen. Und er bekam so ziemlich alle Kinderkrankheiten: Masern, wie gesagt, Mumps, Mittelohrentzündung, Keuchhusten. 
Wenn er dann völlig isoliert allein in seinem Zimmer lag, hatte er mit den Seinen nur Kontakt über das Netz und Sichtkontakt durch ein großes Glasfenster. Noch heute sah er sie vor sich, die bekümmerte Mamutschka und den John–Papa. Sie saßen da und wussten nicht so recht, was sie reden sollten. Aber sie kamen jeden Tag. Nur einmal hatten Mamutschka und John ihren Nachbarn, den Schmidts, beim Umzug geholfen und vergessen, ihm Bescheid zu sagen. Wie  unglücklich er gewesen war! Todunglücklich!
War eigentlich außer ihm jemand, den er kannte, irgendwann krank? Er konnte sich nicht erinnern. Es gab so gut wie keine Ärzte, keine Krankenhäuser. Und außerdem keine Polizisten, keine Gefängnisse.
Irgendwann hatte er mal mit Isabel darüber gesprochen.
“ Ja, das ist anders als in deinem 20. Jahrhundert.“
Jetzt hatte Isabell keine Zeit. Sie lernte zusammen mit Jürgen. Zum Phönix, was lernte sie da? 
Ihr Bruder wollte wissen, was los ist mit ihm und der Welt, in der er lebte, ihr Bruder fühlte sich schlapp und schlecht, und sie lernte mit Jürgen! Das darf doch nicht wahr sein.
So zog er sich zurück zu seinem Hubschraubermodell. Der Vorwärtsflug war schwieriger als der Rückwärtsflug, den er eigentlich schon beherrschte. Heute funktionierte auch der nicht.
*****

In den nächsten Wochen war Frank ziemlich oft in seiner Rückzugszentrale. Alle beschäftigten sich mit den Revolutionsfeiern, auch Isabel und Mamutschka und John. Isabel meinte, dass ihm das Musical „Phönix“ auch gefallen würde, aber sie hätte leider keine Karten mehr bekommen. 
Seit der Sache mit dem Trompetensolo legte man keinen weiteren Wert auf seine Anwesenheit, und er fand sowieso alles, was nicht irgendwie Ähnlichkeit mit Formel 1 hatte, zum Gähnen langweilig. Diese Reden vom Frieden und von der Freiheit und diese Tänze! Ganz Megapol wogte auf allen Stockwerken, man fasste sich an den Händen zu einer unendlichen Friedenskette. Und die Musik quoll aus allen Öffnungen: Wenn man sie fünf Minuten lang angehört hatte, schlief man ein. Zumindest galt das für Frank. Er liebte Heavy Metall. Wie gesagt: Heavy Metall. Heavy Metall dröhnte aus allen Wänden seiner Rückzugszentrale, wenn er das wollte.
Neu war, dass es ihm recht war, wenn er einschlafen konnte. Dann drehte sich wenigstens das Rad in seinem Kopf nicht. Die Fragen waren nicht abzustellen. ‚Er war nicht von hier. Ebensowenig wie die Eingefrorenen.‘ Soviel hatte er verstanden. Und dass der Club der Alten für ihn zuständig war und für die Eingefrorenen. Aber weiter kam er nicht. Nein, die Suchmaschinen im Netz brachten’s auch nicht.
Irgendwann äußerte Isabell: „Was meinst du, wenn alle Leute so wären wie du? Krieg hätten wir und Terror  und Selbstmordkommandos. Dafür schwärmst du doch. Muss das sein? - Seit hundertfünfzig Jahren gibt’s keinen Krieg, keinen Terror, kein Mobbing, keine Krankheit, kein Mord und keinen Diebstahl. Ausnahmen bestätigen ... Wenn du irgendwann mal ausnahmsweise den Reden bei den Revolutionsfeierlichkeiten zugehört hättest, wüsstest du: Der NEUE MENSCH entsteht nicht durch Erziehung, sondern durch Genmanipulation. Erziehung des Menschengeschlechts - nein, Blödsinn ist das nicht, aber die Erfahrung hat gezeigt: Sie hält nicht vor, die Erziehung. Erst die ‚Aktion Phönix‘ hat die Wende gebracht. Wissenschaftskongresslicherseits war man übereingekommen, dass man nun alle biotechnischen Möglichkeiten zur Veränderung der Spezies Mensch nutzen müsste. Wie du weißt, blieb auch nichts anderes übrig bei dem drastischen Rückgang des Menschengeschlechts. Aids, Kriege, Terror, Straße ... ‚Die Friedfertigen werden den Erdball beherrschen‘ oder so ähnlich.“
Frank: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“
„Genau, das war’s. Da siehst du, so neu war der Gedanke nicht.“
„Du könntest dich auch als Rednerin bei den Feiern aufstellen lassen!“ So der abschließende Kommentar von Frank, aber er drehte nachdenklich an den Knöpfen seiner von Mamutschka gestrickten Jacke, was so viel hieß, dass er nachdachte. 
Er war kein NEUER MENSCH, er gehörte nicht hierher, die neue Spezies, das galt nicht für ihn! Es war zum Haareausreißen. 
 Isabel griff nach ihrem roten Mantel, nahm die Handtasche mit den Büchern und drehte sich dann noch einmal nach ihm um: „Weißt du übrigens, dass ich dich heiraten könnte? Wir sind nicht verwandt. Schließlich bist du doch nicht von hier! Ist das kein Gedanke?“ Sie blinzelte ihm zu.

*****

Ganz zufällig kam Reutelbieger zu Besuch, und kurz danach fragte John seinen Sohn, ob er ihn in der Ernährungsmittelfaktorei anmelden solle.
Frank dachte an die teuren Flugstunden für den Realhubschrauber auf dem obersten Deck von Megapolis. Er brauchte Geld und sagte zu.
Mamutschka und John bemühten sich jetzt um Frank. Sie wichen nicht aus, wenn er fragte, und Frank nutzte die Gunst der Stunde, um sich wieder einmal den Veilchendüften in der Küche auszusetzen. 
Mamutschka schälte Kartoffeln, stellte die „Shadows“ leiser und erzählte. „Es war alles ganz einfach. Wir wollten ein Kind, und da gab es eines. Ein Baby mit  Augen, blau wie der Himmel im Frühling, und blonden Haaren. Süüß, sage ich dir.  Aber niemand wollte es, und wir erfuhren dann auch  vom C.d.A., dass ein Haken bei der Sache, sprich dem Kind, war. Du wirst das gleich selbst sehen. So wie es eingefrorene Achtzigjährige gibt, kannst du dir auch eingefrorene Embryos denken. Immer mal wieder kommen sie in Umlauf und werden ausgetragen. Frag nicht, wie so was möglich ist. Und dann ist guter Rat teuer. Man braucht Eltern für dieses Kind, dessen Genmaterial nicht kontrolliert worden war. Es konnte krank werden und - na, ich brauch‘ dir ja nichts zu erzählen ... Das C.d.A. beruhigte uns: ‚Wenn Not am Mann ist, nehmen wir den Kleinen  zurück‘.“
Die Kontrolle deiner Entwicklung war jährlich. In den letzten Jahren bist du allein nach oben gefahren. Und jetzt seit dem letzten Mal willst du ja nicht mehr hin ...“.

*****

Frank fragte nichts mehr. Er funktionierte in der Ernährungsmittelfaktorei und dachte nur an Flugstunden. Als John ihm nach einem halben Jahr Dienstzeit den fehlenden Betrag gab, war er doch gerührt. 
Er lernte schnell, weil er ja durch die Übung am Modell und durch Flugsimulation gut vorbereitet war. Immer wieder  stellte er sich vor, wie er weit weg von Megapol fliegen wollte. Die Stadt von außen sehen, von unten. Das war’s. Wenn dann der Sprit ausging, und er nicht mehr zurück konnte, dann war eben nichts zu machen. 
Isabel hätte er gern mitgenommen. Aber Jürgen gab’s noch für seine Schwester, wenigstens dachte er sich das, und so erzählte er ihr nur von seinem ersten Flug ohne Begleitung.  
Vielleicht kam sie ja. 
Frank startete den Hubschrauber wie vorgesehen um drei Uhr nachmittags bei allerbestem Flugwetter. Er umkreiste Megapol großzügig, dachte daran, was er eigentlich vorhatte, als er plötzlich auf der Startrampe den erwarteten (?) roten Punkt erkannte. Der rote Mantel von Isabel, keine Frage. Was ihn vollkommen aus dem Konzept brachte, war nicht der rote Punkt als solcher, sondern dass dieser rote Punkt auf weiter Fläche allein war und – das war überhaupt keine Frage für Frank den Frager. SIE blinzelte ihm zu!
Als Antwort schickte er eine Wagenladung voller strahlender Blinzel- und Blinkzeichen zurück.
Ganz vorsichtig steuerte er dann seinen Hubschrauber in Richtung roter Punkt.