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Till, der Maler

Marlies Eifert


Das Hallo der Kinder, deutsches und türkisches, drang bis zu dem Tisch, an dem sich Till und Leo niedergelassen hatten. Offenbar ging es lebhaft zu, an der Freilichtbühne am Müggelsee, wo etwas für Kinder aufgeführt wurde. Nach Hallo und Lustigsein war den beiden jungen Leuten aber nicht zumute. In dieser Zeit, kurz vor dem ersten Mai, waren Leos Taschen leer. Erst zum Monatsersten bekam er wieder Geld für seinen Friedhofsjob. Im Moment sahen die beiden so ungepflegt aus wie Tische und Bänke am Parkplatz. Die Gemeinde Rahnsdorf hatte wie alle Ostberliner Vorstädte knappe Kassen, konnte sich den notwendigen Leinölfirnis nicht leisten.

Mit Firnis hatte auch Till, obgleich freier Künstler, nichts am Hut. Er machte eher Objekte und Zeichnungen, Collagen. Die beiden Radler sahen ausgedörrt aus. Bis Rahmsdorf mit der S-Bahn wäre erholsamer gewesen. Nun hatten sie durch das Treptower Grüngelände und weiter durch Köpenick radeln müssen, um den Treffpunkt am Müggelsee zu erreichen. Auch für das FKK Strandbad am Müggelsee, das schon seit zwei Tagen bei moderaten Temperaturen geöffnet hatte, fand sich kein Euro. Till nahm Brote aus seinem Rucksack, bot Leo davon an. Zigarettenstummel lagen herum und längst nicht jede Coladose hatte den Weg in den Abfallcontainer gefunden. Da nutzte auch das Schild nichts, das die Benutzer des Treffs zur Sauberkeit anhielt.

Ziemlich oft, wenn sie wie jetzt zusammen saßen, erzählten sie sich von ihrem größten Erfolg. »Weißt du noch? Die Assemblagen aus verbeulten Schirmen hingen in der Galerie S. Ohne den Vater deiner Freundin Anke hätten wir nie da ausstellen können«, so Leo. Ja, Ankes Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und außerdem noch den einen und anderen Euro für die Vorführung zur Vernissage springen lassen. Till erinnerungsbegeistert: »Das Beste war noch das Ballett. Der Tanz vor den Schirmen mit Schirmen.« Am Ende des Tanzes sahen die Schirme so aus wie die auf den Objekten.

Till zerknüllte sein Butterbrotpapier und ließ es en passant unter den Tisch fallen. Leo abschließend: »Und der Pressemensch – wie hieß er doch noch? Dr. Viktor Müller-Rauch? Der hat dem Till Upsnider eine aussichtsreiche Karriere vorhergesagt. Etwa in der Art des Josef Beuys.« Die Schirmobjekte wurden von der Dresdner Bank aufgekauft, fanden Platz im Foyer. Schließlich wollte sich der Direktor vor seinen Leuten und dem Publikum als ein der neuen Kunst aufgeschlossener Käufer und Kenner präsentieren. Die Höhe der Kaufsumme? Astronomisch, das muss gesagt werden. Astronomisch für Tills Verhältnisse. Ja. Und so war es dazu gekommen, dass Till Upsnider, der aussichtsreiche Künstler, ein Domizil in der Rosenthalerstraße bezog.

Aber das war lange her.

Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. Die Sieger von gestern, Leo und Till, schoben die Fahrräder neben sich her. Es fiel ihnen nichts mehr ein. Dann nach einiger Zeit ließ Leo mit gedämpftem Ton vernehmen: »Du, der Brief von Anke in deiner Hosentasche, der ist ja schon ganz aufgeweicht!« Till murmelte vor sich hin: » Der kann ruhig nass werden. Ist nur von Tante Irene.« Er zog das Papier - oder das was davon übrig war - hervor und zerriss es in tausend Stücke. »Tantchen will eine Reise nach Mallorca machen. In ein Viersternehotel. Da kann sie mir kein Geld schicken. Mann, wozu braucht die ein Viersternehotel?! Muss das sein? Und ich weiß nicht, wo ich mir morgen was zu essen her holen soll.«

Till wohnte schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Rosenthalerstraße. Von Nobelunterkunft für Künstler konnte bei seiner neuen Bleibe weniger die Rede sein. Das alte Miethaus stellte ein absolutes Kontrastprogramm zur Wohnung in der Rosenthalstraße dar. Eimer und Wannen in den Fluren, Toiletten für mehrere Mietparteien zwischen den Stockwerken, enge graue Hinterhöfe, in die kein Auto passte. Sie reichten gerade als Abstellplätze für alte rostige Fahrräder aus. Zaghaften Versuchen, kleine Grünoasen einzurichten, war kein dauerhafter Erfolg vergönnt. Schmucklose Kästen mit verdorrten Blumenresten waren übrig geblieben.

Till und Leo lehnten die Räder gegen die Wand, die dabei war, langsam aber sicher die obere Putzschicht zu verlieren.


*


Einige Tage danach konnte Leo das Gefühl, er müsse nach Till sehen, nicht mehr unterdrücken. Ihm waren die Wohnverhältnisse seines Freundes von vielen Besuchen her bekannt. Wenn man in einem solchen Raum haust, dachte er, muss man ja depressiv werden. Kartons auf dem Boden, unausgepackt, Zettel verstreut auf dem einzigen vorhandenen Stuhl und sonst überall auf den Regalen. Daneben Tassen und Teller, die Tante Irene bei ihrem letzten Besuch in der Rosenstraße mitgebracht hatte. Essenreste verstreut. Eine Leine quer durch den Raum, auf der meistens ein T-Shirt von Till vor sich hin trocknete. Die Feuchtigkeit ließ die Tapete abblättern, und an allen möglichen und unmöglichen Stellen waren Tills Werke mittels Heftzwecken verteilt. Zuerst der »junge« Till, der noch realistisch gemalt hatte, mit Wasserfarben, dann seine Entwicklung zum abstrakten Künstler und zum Objektkünstler, und zuletzt Fotos von der Ausstellung in der Galerie S.

Leo musste vier Treppen steigen, die Tür stand offen. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Auch Till selbst - er empfing nicht mehr wie sonst um diese Zeit im Nachtgewand, sondern regelrecht ausgehbereit. »Nein, du störst nicht! Kaffee? Das ist gut! Danke fürs Mitbringen. Ich koche gleich welchen. Ich kann auch später gehen. Ist ja egal.«

Leo ließ seine Augen schweifen. Was nur war anders geworden? »Suchst du was?« Till holte den Armreif aus der offen stehenden Schublade. »Ein Onyx ..., wow, wo hast du den denn her?« »Reiner Zufall, würde ich mal sagen, oder wer weiß, Schicksal? Du kennst die Sperrmüllablage um die Ecke, gehst ja immer daran vorbei, wenn du hierher kommst. Da hat er sich mir gezeigt. Genau, so würde ich das mal ausdrücken. Er hat sich mir gezeigt. Er blitzte nur so durch die Gegend. Richtig unheimlich. Schwarz, glänzend, mit ein paar weißen Einsprengseln! Ob er ein altes Familienstück ist, das nun niemand mehr wollte? Wie auch immer. Das ist schwer zu sagen. Du könntest mal im Institut nachsehen. Vielleicht findest du ja was darüber. Meinst du, ich müsste ihn zur Fundstelle bringen? Oder mit seiner Hilfe ein paar Euro auf dem Trödelmarkt einheimsen? Nötig hätte ich die ja. Oder ich kann ihn irgendwann mal an Anke verschenken. Obwohl - ist eigentlich nicht ihr Stil.«

Während sie redeten und Kaffee tranken, blitzte und blinkte der Stein vor sich hin.


*


Was Leo herausfand, war recht widersprüchlich.

»Der Onyx ist eine zweifarbig beschichtete Unterart des Achat und gehört zur Gruppe der Quarz-Chalcedon.«

War es nun gut, ihn zu behalten? Brachte er Unglück oder kam mit ihm das Glück ins Haus? »Man sagt ihm nach, dass er Kummer, schlechte Träume erzeugt, Melancholie. Aber auch, dass er Wünsche erfüllt ...«

»Na ja«, meinte Leo, »bei dir ist er ja sowieso in richtigen Händen. Er gilt nämlich als Stein der Egoisten.« »Aha«, meinte Till, »dann kann ich ihn ja behalten. Das Wünsche-Erfüllen hört sich schon mal sehr gut an. So etwas kann ich gebrauchen. Mir bleibt sowieso nur noch das Wünschen.«

Er zeigte auf den Armreif und sagte laut und deutlich: »Ich wünsche mir Erfolg und Geld, Geld, Geld.«

»Das war nicht zu überhören«, meinte Leo.

Sie lachten, so als ginge es ihnen tatsächlich schon besser.

»Und weißt du was? Ich habe heute einen Brief bekommen. Ist das nicht ein gutes Zeichen? Schlechte Träume habe ich sowieso. Vorausgesetzt ich schlafe ein. Kummer und das Melancholische - so was kenne ich seit Monaten. Und überhaupt, es ist sowieso alles Humbug oder Blödsinn oder was weiß ich nicht was. Irgendwann verkaufe ich ihn, aber zuerst einmal kann er bleiben. Gib ihn her, ich lege ihn wieder in die Schublade.«

Soweit zum Armreif aus Onyx.

Aber das war ja nun noch der Brief.

Leo wurde neugierig. »Du hast einen Brief bekommen. Von Anke oder von Tante Irene?« Till drehte den Brief hin und her, legte ihn erst mal auf die Seite, als hätte er nichts gehört. Leo: »Wenn er von Tante Irene wäre, dann würde er wohl nicht so aussehen. Ein olivgrüner Umschlag. Und außerdem wäre er wohl sicher in tausend Papierschnitzel verwandelt worden, wie ich dich so kenne. Dass Irenchen auf ihr Viersternehotel auf Mallorca verzichten würde, ist wohl eher unwahrscheinlich. Tja, und Anke? Das kann ich mir auch nicht denken. Die interessiert sich bestimmt nicht für einen Künstler, der auf Dauer nichts auf die Beine stellt. Nu sag schon!«

Leo fing vor Aufregung an zu berlinern: »Nu geh mal in dir.«

»Also gut, du kannst selbst lesen. Die Dame dürfte dir nicht ganz unbekannt sein: Frau Berrit Kübler-Runkel.«

Aber natürlich kannte Leo sie. Das war die kleine, ältere Dame, die sich damals die Ausstellung in der Galerie S. angesehen hatte. Zur Ausstellung selbst hatte sie nicht so furchtbar viel gesagt. Aber sie hatte sich lange mit Till unterhalten. Und Till hatte als Adresse die Rosenthalstraße angegeben, in der er ja auch tatsächlich damals gewohnt hatte. Der Brief war nachgeschickt worden. »Ich weiß nicht mehr genau, was wir alles besprochen haben. Aber Frau Kübler-Runkel meinte, ich wäre doch nett und nicht wie die anderen Leute, die sie kennt und die nicht verstünden zuzuhören.«

»Ach was«, meinte Leo. »Du hast nur zugehört, weil da unübersehbar ein schwarzer glänzender Stein an dem Ringfinger zu sehen war. Ja, ein schwarzer Stein, ich erinnere mich genau! Das war eine reiche Frau. Wenigstens hast du dir das gedacht.«

Till stützte sich mit der Hand auf, schob ein paar Papiere auf die Seite und ein Stück von Leos mitgebrachtem Kuchen in den Mund. Kaute. »Das dunkelblaue Seidenkleid«, redete er vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu Leo. »Die Dame war schon was Besonderes – nicht so wie die vielen Gammellukis rund um sie herum. Hm ja, von ihrem Mann hat sie erzählt, der seit fünf Jahren nicht mehr lebte. Sie hätte eine schöne Wohnung. Ja. Ob wir sie nicht mal besuchen wollten? Daraus ist nichts geworden, weil wir durch anderes so abgelenkt waren. Zu der Zeit waren wir, wie du weißt, so richtig in Aktion.«

*


Frau Berrit Kübler-Runkel hatte nicht ernsthaft erwartet, dass sich jemand von den jungen Leuten melden würde. Wenn sie ehrlich war, fand sie die verrosteten Schirme, das Herumgetanze des »Balletts« ziemlich albern. Aber dieser junge Mann mit der modischen Schwanzfrisur, dem lockeren T-Shirt und vor allem mit den schwarzen Augen – der war sehenswert. Und falls man weg hörte, wenn er von seinen Zukunftsprojekten herum tönte, dann war er wirklich richtig sympathisch. Ganz anders zwar als ihr verstorbener Mann, den sie hauptsächlich im Nadelstreifenanzug kannte und der sich auch zu Hause immer gentlemanlike gab. Gentleman, ja das war er. Besonders wenn sie bedachte, dass er sie vorsorglich, als es ihm schon nicht mehr so gut gegangen war, als Alleinerbin eingesetzt hatte. Und so konnte sie die Wohnung im Zentrum Berlins, am Ende des Kurfürstendams, halten. Eine Vierzimmerwohnung mit hohen Räumen und Stuckdecken – ideal zur Präsentation von Kunstwerken.

Mit dem Sammeln von Bildern hörte sie auch nach dem Tod ihres Mannes nicht auf. Sie kannte die Galerien in Berlin, ging häufig zu Vernissagen und so blieb es nicht aus, dass sie auch auf die Galerie S., in der Till Upsnider seine erste Ausstellung hatte, gestoßen war. Aber sie hatte den Namen in der Kunstszene seitdem nicht mehr gehört. Es interessierte sie, was aus ihm geworden war. Und so war ihr die Idee gekommen, diesem jungen sympathischen Mann zu einem Auftrag zu verhelfen.

Sie habe in ihrem Fotoalbum geblättert, so schrieb sie, und ihr sei dabei der Gedanke gekommen, einige Aufnahmen in Acryl, Öl, Aquarell oder auch als Zeichnung umsetzen zu lassen. Auf Porträtgenauigkeit würde sie allerdings Wert legen.

Sie sei von seinen Fähigkeiten als Maler überzeugt. Den Journalisten Dr. Müller-Rauch, der damals die Besprechung gemacht habe, kenne sie persönlich. Sie vertraue auf sein Urteil.

Wenn er, Till, einverstanden wäre, würde sie ihn und seinen Freund nächste Woche zu sich einladen. Bei einer Zusage stelle sie einen Vorschuss in halber Höhe der Endsumme in Aussicht. Er solle sich melden unter der Telefonnummer ...


*


»Und du meinst, dass du so was zustande bringst?«

Leo schaute sich im Raum um, konnte keinerlei Werke entdecken, bei denen es auf Porträtähnlichkeit angekommen wäre. War Till überhaupt dazu in der Lage, jemanden zu porträtieren? Er war skeptisch. Und Till auch. Die anfängliche Euphorie machte sich langsam aber sicher davon. Die Zweifel blieben, auch als Leo gegangen war.

Der Armreif aus Onyx blinkte und blitzte vor sich hin. Wie hatte Leo gesagt? Er erfüllt Wünsche … Aber war da nicht auch von Unheil im Gefolge des Onyx die Rede gewesen?

*


Nach Leos Besuch betrachtete Till immer wieder diesen Brief Er nahm ihn in die Hand, schüttelte mit dem Kopf und legte ihn neben den Armreif aus Onyx. Er müsste eigentlich langsam reagieren, auf den Brief antworten. Irgendwie. Nur wie?

Manchmal waren es ja die Träume, die Hinweise für ein richtiges Handeln gaben.

Einmal nun hatte er tatsächlich einen merkwürdigen Traum.

Eine verräucherte Wirtsstube. Lange Tische. Bier trinkende gedrungene Leute mit Schlapphüten. Plötzlich hörte er seinen Namen. »Das ist Eulenspiegel. Prost«.

Benommen schaute er um sich Alle starrten ihn an, wie das siebte Weltwunder. Wenn er sich bewegte, klingelten kleine Kugeln, die an der Halskrause befestigt waren. Till Eulenspiegel. Till, ja, das stimmte. Aber er hieß doch Till Upsnider? Da stimmte was nicht. Wie hieß der Ort? Kneitlingen. Hm, nicht Berlin? Er dachte: Nichts wie weg Aber dann prostete man ihm zu. Immer von neuem wurde sein Becher gefüllt. Fast fühlte er sich wohl hier.

Langsam wurde es dunkel. Die Öllampen begannen zu stinken, der Raum leerte sich. Bezahlen? Er griff nach einem Beutel, der vorne am Bauch herunter hing. Aber bevor er Thaler oder Euro herausholen konnte, klickte ein Messer auf. Der Wirt stach auf den Beutel ein und die Thaler stürzten heraus auf den Boden. Alle bückten sich, Till auch. Seine Barschaft versammelte sich auf dem Boden. Ein Stuhl fiel um. Etwas schepperte. Alles drehte sich. Er fand sich auf dem Boden wieder, versuchte die Thaler aufzufangen und hatte plötzlich einen Armreif in der Hand. Den Onyx! Ja, er hatte geträumt. Auf dem Fußboden neben seinem Bett lagen keine Thaler, sondern Scherben, die Scherben der Tasse, die das Übergewicht bekommen hatte und herunter gefallen war ...

Benommen stand er auf, holte Kehrbesen, Schippe und Eimer, sammelte die Scherben ein.

Es war fünf Uhr morgens. Sollte er aufstehen? Er hatte keine Lust auf weitere Träume. Es fiel ihm ein, was Leo erzählt hatte. Der Onyx würde Albträume bringen. Wenn doch was dran war? Aber er war müde, erinnerte sich noch an die Eulenspiegel-Aufführungen zu der Zeit, als er noch Schüler war.

Dann schlief er wieder ein. Und er versank wieder in seinen Eulenspiegeltraum.

Nun lief er durch irgendwelche Gassen. Irgendwohin wollte er. Wohin nur? Er fasste nach dem Beutel, erinnerte sich, ja, der musste leer sein. Und er war leer. Genau so war es. Er suchte einen Mann namens Waldemar von Wildburghausen. Richtig. Waldemar von Wildburghausen. So hieß er. Plötzlich war alles klar. Er suchte Arbeit, und dieser Herr von Wildburghausen hatte welche zu vergeben. Als er die Fotos in der Hand erkannte, wusste er, dass er die Motive malen sollte mit Feder, Stift, Spachtel oder Pinsel.

Dann hörte er sich sagen, er wolle allein, das heißt ohne Zeugen malen. Daraufhin verlangte er fünfzig Thaler Vorschuss. Und er erklärte, dass nur Kunstverständige wahrnehmen könnten, was auf dem Bild zu erkennen sein würde. Soweit lief alles wie am Schnürchen. Anders als sein Vorbild pfiff Till Upsnider, alias Till Eulenspiegel, nicht vor sich hin. Wenn doch nur schon alles vorbei wäre.

»Mein Vater würde gern die Fortschritte Eurer Arbeit begutachten! Er drängt schon lange. Wann wäre es Euch recht?« Das war Anke! Nein, das war nicht Anke. Er hatte sich getäuscht. Das war die Tochter des Auftraggebers.

Till konnte nichts anderes tun als zustimmen.

Mit einem Zeigestock in der Hand stand er vor der leeren Wand und hörte sich erklären, was alles auf der Wand zu erkennen sei. Szenen aus der Familiengeschichte derer von Wildburghausen. Volltönend erzählte er. Er fing an zu schwitzen wie in der Prüfung. Er wusste nicht weiter. Hatte der Graf Kinder? Wie nur hießen sie?

Wild entschlossen zeigte er mit dem Stock irgendwohin auf die weiße Wand und behauptete, dass hier Waldemars schöne Urahnin in Seitenansicht abgebildet sei. An den Gesichtern der beiden Zuhörer bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Er hatte links und rechts verwechselt!

Die Tochter des Grafen hustete, und der Arbeitgeber selbst sah ihn misstrauisch, stirnrunzelnd, fragend an. Mit gedämpfter Stimme sagte Anke: »Du hast links und rechts verwechselt. Sei vorsichtig.« Wie ein Anker erschien ihm die Dame, die ja nicht Anke war, sondern die Tochter des Herrn von Wildburghausen. Blinkte da nicht der schwarze Armreif an ihrem Arm? Der Onyx!

»Ihr habt links und rechts verwechselt!« Laut hörte er es nahe am Ohr. Und auch der Graf hörte es. Plötzlich war der Raum voller Leute. Till hetzte zum Fenster. 6. Stock! »Betrüger!«, hörte er hinter sich. »Betrüger!« Das Fenster stand auf. Till sah hinunter. Erschreckt erkannte er unten eine riesige Figur, die alle Gliedmaßen von sich streckte, zurück konnte er nicht, so stürzte er auf die Figur zu …

Entsetzt wachte er auf.

Wie zum Hohn blinkte der Armreif neben ihm auf dem Nachttisch.


*


Till hatte lange gebraucht, bis er einigermaßen wieder zu sich gekommen war. Gegen Mittag fiel ihm ein, dass er ja mit Leo heute verabredet war. Mit Leo beim »Treff« am Müggelsee. Zwei Stunden hatte er Zeit. Hoffentlich hielt das Wetter.

Er musste mit Frau Berrit Kübler-Runkel reden. Absagen! Den Auftrag zurückgeben. Das war die Botschaft des Traumes. Es gab keinen anderen Weg. Da war die Telefonzelle. Er kramte den Brief aus der Hosentasche. Ja, hier: die Nummer von Frau Kübler-Runkel. Aber da stand jemand in der Zelle und redete und redete. Till klopfte, der andere jedoch rührte sich nicht.

Es brummte in seinem Kopf herum. Der Vorschuss und seine Möglichkeiten. Was wäre damit zu machen? Der Mann war wie fest gewurzelt im Telefonhäuschen. Till verlor die Geduld. Langsam setzte er seinen Weg fort, so als wäre da jemand, etwas, ein Uhrwerk, das ihn antrieb, weiter trieb - von der Telefonzelle weg.

Der Vorschuss würde alle Probleme lösen. Was konnte man mit dem Geld nicht alles machen? Endlich mal wieder richtig essen. Und dann die Schulden begleichen. Schon lange traute er sich nicht mehr in die »Szene«. Wer war denn da noch, den er nicht angepumpt hatte? Und Tante Irene, die konnte seinetwegen nach Honolulu, nach Lanzarote oder auch nach Mallorca fliegen. Ihm konnte das egal sein. Leo, na ja, der hatte wohl aufgegeben, noch etwas von ihm zu erwarten. Er wusste schon nicht mehr genau, wie viel der ihm geliehen hatte. Und da gab es noch Fritzi, die zwei Stockwerke tiefer wohnte. Sie brachte ihm fast jeden Tag etwas zum Essen, räumte auf, war einfach nett. Manchmal schliefen sie zusammen. Aber er wollte das eigentlich nicht, denn Anke spukte immer noch bei ihm im Kopf herum. Gerne hätte er Fritzi neue Jeans gekauft und ein Designer-Oberteil.

Der Vorschuss. Den brauchte er - daran ging kein Weg vorbei. Fast kam es ihm so vor, als würde Optatio Onyx, so nannte er nun den Armreif bei sich selbst, hin und her hüpfen. Er trug ihn immer in der Hosentasche.

Es waren wohl die beiden Seelen, die in seiner Brust wohnten. Die eine Seele redete ihm vom Vorschuss, die andere deutete den Traum als Warnung, malte ihm aus, was ihm passieren würde, wenn er nicht in der Lage wäre, die Bedingungen von Frau Kübler-Runkel zu erfüllen. Tja, und was wäre dann?

*



Leo hätte sich eigentlich mit der Seminararbeit über die heraldischen Motive unter besonderer Berücksichtigung der Familie der Herren von Wildburghausen beschäftigen müssen. Zu diesem Zweck hatte er im Lesesaal der Uni Platz genommen und den Müggelsee-Treff abgesagt. Er musste endlich etwas tun! So ging das nicht weiter. Bücher türmten sich vor ihm auf. Das Blatt zum Schreiben lag neben ihm. Nur dürftige Notizen brachte er zustande. Die kleinen grauen Zellen ließen sich nicht in Richtung »Wappen der Herren von Wildburghausen« ausrichten. Leo war abgelenkt. Till machte sich in seinen Gedanken breit. Wie enttäuscht er am Telefon geklungen hatte! Richtig zum Weinen. Sein Freund brauchte den Vorschuss. Unbedingt. Der Vorschuss war einfach die letzte Chance für Till. Tagsüber grübelte er, nachts kamen die Albträume. Eines Tages ... Till hatte erzählt, dass er schon seit einiger Zeit Schlaftabletten sammelte. Summa summarum, dem Manne musste geholfen werden. Dieser Traum, von dem Till erzählt hatte. Furchtbar!

Obwohl - vielleicht enthielt er ja eine ganz andere Botschaft als die, die Till ihm gegeben hatte. Leo dachte nach. Auch dieser Eulenspiegel hatte ja Vorschuss verlangt. Und auch ihm war von vornherein klar gewesen: Das was sein Auftraggeber von ihm gewollt hatte, würde er nicht erfüllen können. Eine List musste her. Eine List, die Till Eulenspiegel alle Ehre machen würde, und Till Upsnider, der sich sein Freund nannte, sein bester Freund, wie er immer betonte, sowieso. Leo kam ins Grübeln.

Ja, das war die Lösung: Energisch schlug er mit der Faust auf den Tisch und zog damit giftige Blicke seiner Nachbarn auf sich. Leo merkte nichts.

Wenn er an Tills statt handeln würde, dann wäre ja vielleicht das Verhängnis, das vom Onyx ausgehen sollte und seinen Freund offensichtlich regelrecht lahm legte, abzuwenden.

So schnell wie möglich sollte die Verabredung mit Frau Berrit Kübler-Runkel über die Bühne gehen. Leo übernahm nun die Regie. Er rief von der Uni aus per Handy bei der Auftraggeberin an, ohne seinen Freund informiert zu haben. Frau Kübler-Runkel war einverstanden. Sie würde beide Herren am Sonntag um vier Uhr erwarten. Dann könne man alles besprechen. Er dachte sich, seinen Freund einfach mitziehen zu können. Ob das Unheil oder das Heil dann seinen Lauf nehmen würde, wer weiß. Räsonieren kann man immer noch. Jetzt ging‘s nicht mehr zurück.

Mit entschlossenem Gesichtsaudruck brachte Leo die Bücher an ihren Platz zurück und verließ den Lesesaal.


*


Seit ihrem letzten »Treff« am Müggelsee waren noch nicht einmal drei Wochen vorüber. Und heute wieder schönes Wetter! Aber es lehnten keine verrosteten Fahrräder am Tisch. Auch die Garderobe hatte sich verändert. Edeljeans und Designerjacken, farblich aufeinander abgestimmt. Und wenn die beiden in die Taschen griffen, klimperten darin die Thaler, nein, die Euros und Cents, und es raschelten die Scheine. Sie waren mit der Bahn hierher gefahren, hatten dem FKK-Bad einen Besuch abgestattet und hatten schließlich im Strandbadlokal gespeist.

Ja, die Besprechung mit Frau Kübler-Runkel lag hinter ihnen. Sie hatten Erfolg gehabt. Der Vorschuss befand sich ihren Händen.

Trotzdem: Immer wieder redete Till von der Grafik im Eingangsbereich der Wohnung von Frau Berrit Kübler-Runkel. Konnte das wahr sein? Die Grafik zeigte genau die Figur, auf die er im Traum zugesprungen war. Diese schreckliche Figur, die sich aus Schwarz, Weiß und Rot zusammensetzte. Einem weißen Bein entsprach diagonal ein abgewinkelter Arm mit geballter Faust. In der Körpermitte zwei weiße Punkte. Diese Gestalt hatte Till magisch angezogen. Er blieb stehen und hörte nicht auf die Einladung von Frau Kübler-Runkel, in den Empfangsraum weiter zu gehen. Leo hatte ihm eifrig zugeflüstert und ihn überredet, nicht alles aufs Spiel zu setzen. Till war auch nachher ziemlich abwesend gewesen, nicht ansprechbar. Leo führte die Besprechung allein.

Damals signalisierte Till: »Du kannst machen, was du willst. Ich sage zu allem ja

Auch jetzt war es Leo, der die Pläne entwickelte.

»Zuerst einmal müssen wir zum Künstlertreff am Freitag. Geld genug, um die Schulden zu bezahlen, hast du ja. Alle sollten sie zur Vernissage kommen, sozusagen als Publikum. Du überlegst dir etwas zu den Fotos, die wir in die Hand gedrückt bekommen haben. Vor allem ist wichtig: Frau Kübler-Runkel muss so völlig überrascht sein von dem Erfolg, dass sie ihr ursprüngliches Konzept vergisst. Sie wird die Tachismusmalerei mit eingelassenen Fotos akzeptieren, auch wenn du damit ihren Forderungen genau genommen nicht nachgekommen bist. Du wirst sehen ...«


*


Zunächst lief eigentlich so ziemlich alles nach Plan. Ein Ausstellungsraum, der sogar in der Nähe von Leos Arbeitsstelle lag, war relativ leicht gefunden. Der Galerist Friedrich Rauental stellte ihnen die katakombenartigen Räumlichkeiten zur Verfügung. Hier fanden regelmäßig Ausstellungen statt. Dr. Müller–Rauch, der die Besprechung von Tills erster Ausstellung gemacht hatte, war nicht bereit zu kommen, aber es erschien ein anderer Journalist. Und es versammelten sich Malerkollegen. Sie füllten die ihnen zugedachte Rolle perfekt aus. Noch verbarg ein weißer Vorhang Tills Exponate.

Tills Vortrag - zuerst unsicher – wurde zunehmend lebendiger. Wie weiland Till Eulenspiegel ließ er den Zeigestock über die weiße Fläche spielen und erzählte, was auf dem Bild zu sehen war. Das Ehepaar Runkel, zum Beispiel, im Sommerurlaub am Meer, von hinten zu sehen. Beide mit Sonnenhut. Zeitungen um sie herum ausgebreitet. Und außerdem: Sommer, Sonne, Meer. Alle hörten gespannt zu. Auch Frau Berrit Kübler-Runkel, die in einem langen Seidenkleid erschienen war.

Dann folgten die Enthüllung und die allgemeine abgesprochene Begeisterung der Malerkollegen. Das »AHH« wurde mit musikalischem Tusch unterstützt.

Er hatte vier Fotos den vier Jahreszeiten zugeordnet und sie in der Mitte des jeweiligen Bildes etwas vertieft angebracht. Um die Fotos herum wurden die jeweiligen Jahreszeiten präsentiert. Farblich fügte sich alles gut zusammen. Eigentlich konnten sich die Bilder doch sehen lassen!

Hatte Optatio Onyx nicht seine Aufgabe erfüllt? Erfolg und Geld - beides zum Greifen nah!

Niemand merkte, dass Frau Berrit Kübler-Runkels Gesicht lang und länger geworden war. Ohne Aufheben zu verursachen, hatte sie den Ausstellungsraum verlassen.


*


Danach schlief Till traumlos. Nicht, dass er sich besonders glücklich fühlte. Ob nun die Sorgen wirklich vergangen waren? Nun, es würde sich zeigen.

Am übernächsten Morgen klingelte das neu erworbene Handy. Leo am Apparat. In der Zeitung stünde ein vernichtender Artikel. Von Affentheater in Bezug auf die Ausstellung wäre die Rede. Was nun werden solle ... Und Frau Berrit Kübler-Runkel? Was um alles in der Welt sagt Frau Berrit Kübler-Runkel?!

Lange zu warten brauchte Till auf die Beantwortung dieser Frage nicht. Er fand im Briefkasten eine Mitteilung des Rechtsanwaltsbüros Erksleben vor.

Die Mandantin kündigte an: »Der Vorschuss muss zurückgezahlt werden. Die Bedingungen sind nicht eingehalten worden.«

Till Upsnider wurde aufgefordert, bis zum 2. Juli zu zahlen.

Mit gleicher Post kam eine Karte von Tante Irene aus Mallorca an. Viele Grüße aus Mallorca. Offensichtlich war die Karte nach dem Poststempel eine Woche unterwegs gewesen. Jetzt musste Tante Irene also zurück sein.

Leo versuchte, Till zu einem Gang nach Canossa zu bewegen, also seine Situation bei Frau Kübler-Runkel darzustellen. Dazu war Till nicht in der Lage. Leo musste das einsehen. Die Malerkollegen noch einmal anpumpen? Das ging auch nicht. Blieb nur Tante Irene.

Mitten in diese Überlegungen fiel die Hiobsnachricht vom Feuer im Ausstellungsraum. Das Mobiliar verbrannt, die Wände verkohlt. Hier konnte in der nächsten Zeit keine Ausstellung mehr stattfinden. Der Galerist nahezu ruiniert.

Die vier Bilder jedoch sind gerettet. Mit Brandschäden zwar, aber gerettet.

Leo brachte sie in der Garage unter. Schon seit einiger Zeit besaß er kein Auto. Sein Freund Till wollte seine Werke nicht mehr sehen. »Ich schenke dir die Bilder«, meinte er. »Du kannst mit ihnen machen was du willst. Am besten, du verbrennst sie.«

Till dachte: Der Onyx muss beiseite gebracht werden. Aberglaube hin, Aberglaube her. Irgendetwas stimmte nicht. Wenn er nachdachte, hatte sich alles erfüllt. Der Wunsch und das Verhängnis. Vor allem das Verhängnis. Der Onyx musste entsorgt werden. Blieb nur die Frage, wohin.

Dazu fiel ihm nach einigem Nachdenken eine, wie er meinte, gute Lösung ein.

Einige Spaziergänge hatten ihn vor Wochen in benachbarte Hinterhöfe geführt. Dort standen merkwürdige architektonische Bauteile herum. Abgebrochene Voluten, zum Beispiel, oder gesprengte Giebel. Berliner Bürger hatten sie gerettet, kurz vor der Sprengung des Andreas-Schlüter-Schlosses. Diese Bauteile bekamen also in den Hinterhöfen eine neue Heimat.

Und nun wechselte der Onyx seinen Standort vom Hosentaschen- und Nachttischschränkchen-Dasein zum gesprengten Giebel im benachbarten Innenhof.


*


Auf Leo war Till nicht mehr gut zu sprechen. Hätte er nicht, dann wäre ich auch nicht …, dachte er. Und als Leo über Handy von einem Aufsatz erzählte, der für Till in einer Verteidigung gegenüber Frau Berrit Kübler-Runkel eine unschätzbare Hilfe sein könnte, meinte der: »Lass mich in Ruhe! Deine Vorschläge ... Ich will nicht mehr und ich kann nicht mehr! Ich will nichts mehr hören. Nichts! Verstehst du? Nichts!«

Leo hatte einige Zeit gebraucht, um diesen Aufsatz zu finden, in dem es darum ging, dass der Tachismus doch eine Nähe zum Naturalismus und sogar Realismus hätte. War das nicht ein unschätzbares Argument gegenüber der Anwaltschaft von Frau Berrit Kübler-Runkel? Und nun Tills Reaktion. Leo konnte es nicht fassen. Dazu kam, dass er kurz vor dem Abgabetermin für sein Referat »Über die heraldischen Motive ...« stand. Er würde nicht rechtzeitig fertig werden. Das Semester war sowieso verloren. Und ob er seinen Friedhofsjob behalten konnte, stand auch in den Sternen. Seine Sorgen umstanden ihn. Würde sich Till darum kümmern? Daran war nicht zu denken. Dieser Freund, der nur sich selbst kannte, sollte sehen, wo er blieb. Er, Leo, stand nicht mehr zur Verfügung! Hätte er früher an sich selbst gedacht, ginge es ihm jetzt besser. Schuld an allem war Till. Immer ging es um seine Probleme. Für die Zukunft stand er einfach nicht mehr zur Verfügung.


*


Bei Tills Abschied von Berlin zeigte sich Leo nicht auf dem Bahnhof. Sowieso wusste er nichts von der Abfahrt. Nur Fritzi und ihr neuer Freund. Beide hatten ihm bei der Auflösung seines »Hausstandes« geholfen. Tante Irene nahm die Rückzahlung des Vorschusses auf sich, verlangte jedoch im Gegenzug, dass Till ihr bei Haus- und Gartenarbeit half. Auf unbestimmte Zeit: Till war inzwischen alles Recht. Oder auch nicht. Es kam auf eins hinaus.

Kurz vor der Abfahrt reichte Fritzi ihm noch eine Zeitung herein. »Musste lesen!«, rief sie. »Ein Artikel über Frau Berrit Kübler-Runkel.« Er war rot angestrichen und während der Zug langsam anfuhr, las Till. Und nun erfuhr er, dass Frau Kübler-Runkel ihre Wohnung aufgegeben habe. Sie sei enttäuscht von den Machenschaften im Kunsthandel. In einigen Worten wurde die Geschichte des Betrugs - ja, da war das Wort »Betrug« zu lesen - unzweideutig abgehandelt. Die Gesundheit von Frau Kübler–Runkel ließe zu wünschen übrig. Sie überlege die Übersiedlung in ein Heim für betreutes Wohnen.

Und so war es gekommen, dass der Treff am Müggelsee auf lange Sicht verwaiste, dass es keine Radtouren mehr dorthin gab und auch keine Fahrten mit der S-Bahn. Auch das FKK Bad musste in diesem Sommer ohne Leo und Till auskommen. Obwohl das Wetter nicht schlecht war.

Till mutierte unter Tante Irenes Führung zum Wald-, Garten- und Haus-Arbeiter. Zum »Mädchen« für alles. Till Upsnider, dem eine Karriere vorausgesagt worden war, die der des Josef Beuys anscheinend in nichts nachstehen würde, wurde von allen »Utsichten« dieser Welt schmählich im Stich gelassen. Er sägte Bäume, steckte unentwegt Äste in den Häcksler, befreite die Wege und Beete in Tante Irenes Garten von lästigen Unkräutern, befeuchtete Blumen und Rasen mit Hilfe von Schlauch und Gießkanne. Er war zugange von morgens bis abends, im Rücken Tante Irenes schrille Stimme. Es war genau die Stimme, die auch seiner Mutter gehört hatte, wenn sie zwischen Beruf, Haushalt und Kind hin und her gerissen worden war. »Deine Mutter hatte keine Zeit, um dich anständig zu erziehen. Ich hole das jetzt nach«, hörte Till nun einige Male am Tag aus Tante Irenes Mund. Er stellte auf Durchzug.

Nun ja, nicht nur Till hatte seine Probleme mit diesem Leben. Auch für die Tante war der Umgang mit ihrem Neffen nicht immer nur eitel Freude. Dieses Motz-Muffelgesicht! Und zwar im Dauerzustand. Am Liebsten hätte sie das »Arbeitsverhältnis« beendet. Da waren jedoch neuerdings dieser Husten und der Hexenschuss. Sie kam allein gar nicht zurecht. Und so lief es also weiter wie es eben lief.


*


Inzwischen war der Herbst ins Land gezogen. Till frühstückte gerade mit Tantchen zusammen, als sie beide hörten, wie die Postfrau einen Brief in den Kasten einwarf, der neben der Haustür angebracht war. Tante Irene schaute nach. »Du, Till, der Brief ist für dich!«

Als sie eine Weile später nach ihm sah, hatte er den Kopf in beide Hände vergraben und schaute blicklos gerade aus, den Brief weit von sich geschoben ... Ob sie ihn lese könne? Den Brief natürlich. Keine Reaktion. Als sie anfing zu lesen - keine Reaktion! Das interpretierte sie dann als Erlaubnis.

Anke schrieb, dass sie nach einiger Zeit nun mal wieder in Berlin sei. Es würde ihr Leid tun, dass sie Till nicht getroffen hätte, und so weiter, und so weiter.

Ob er wisse, dass Leo seine, Tills, Bilder, das heißt die, die in der Garage gestanden hätten, bei einer Auktion verkauft hätte? Und sie nannte eine Summe, die den »Vorschuss« bei weitem überstieg. So weit der Brief.

»Nun mach mal halb lang«, erklärte die Tante. »Warum sitzt du da, als stünde der Weltuntergang kurz bevor? Anke hat geschrieben! Anke! Deine Anke! Wenn sie kein Interesse an dir hätte, dann hätte sie sich nicht gemeldet. Oder? Was meinst du? Und überhaupt, woher hat sie deine neue Adresse? Von Leo. Na ja, Leo habe ich inzwischen kennen gelernt. Du redest ja nur von ihm. Ich meine, Leo gibt dir ab von seinem Gewinn. Du wirst sehen! Das sagt dir deine Tante!« Und nach einer Weile fügte sie noch hinzu: »Ich habe gestern in einer Geschichte mit dem Titel Mit Strupps auf neue Gedanken kommen eine interessante Bemerkung gefunden. Wenn sich allzu viel trüber Dunst unter unserer Hirnschüssel festsetzt, geht uns der Schlüsselblick für neue Möglichkeiten verloren. Passt das auf dich?«

Till reagierte erst nach einiger Zeit. »Ja«, sagte er dann. »Es passt. Du hast vollkommen Recht. Was meinst du? Die Hirnschüssel lässt doch noch mal lüften, damit sich der trübe Dunst einen Weg nach außen sucht. Oder? Ich könnte es ja mal versuchen. Ganz bestimmt gibt es neue Möglichkeiten! Und ich werde sie finden – und zwar ohne die Hilfe irgendwelcher Armreifen.«